Chapter 01

Eine Schriftstellerin

Wo auch immer ich bin, es ist mittlerweile überall dasselbe.

„Frau Rust, verraten Sie uns, wann der neue Priscilla-Roman erscheint?“

Egal, ob Paris, London, New York, Berlin oder eben Florenz wie heute. Es ändern sich die Städte, es ändern sich die Sprachen, es ändert sich alles, nur die Fragen sind immer dieselben.

„Ihre Leserinnen auf der ganzen Welt wollen wissen, wie’s weitergeht, wollen ein neues Abenteuer. Sie wollen sie doch nicht enttäuschen, oder?“

Ich und meine Fans enttäuschen? Niemals. Elizabeth Rust steht zu Diensten, Leserinnen in aller Welt! Bitte sehr, die Nächste bitte, hier, das neue Abenteuer zum Lesen. Machen Sie sich nur keine Sorgen um mich, ich habe schließlich keine Probleme, es genügt, einen Roman nach dem anderen zu schreiben und alle sind zufrieden. Alle? Hat sich vielleicht schon einmal jemand gefragt, was ich denn gerne hätte?

„Es gibt Gerüchte, wonach Sie Ihre Heldin Priscilla im nächsten Buch sterben lassen wollen, Ihr Verlag will das aber nicht zulassen. Ist es deswegen, dass das Erscheinen des neuen Buches verschoben wurde? Können Sie das bestätigen?“

Priscilla sterben lassen? Das wäre nun wirklich einmal eine gute Idee, über die es sich nachzudenken lohnen würde. Etwas Dramatisches müsste es sein: ein Flugzeugabsturz vielleicht oder doch eher Gift? Getötet von einem verschmähten Liebhaber. Wäre doch ein schönes Ende für Priscilla, oder? Auf einen Schlag hätte ich mich von einem Albtraum befreit, der mich nun schon seit vielen Jahren, seit zu vielen Jahren verfolgt. Ich könnte endlich schreiben, was ich wollte…

Chapter 02

Paparazzi

Normalerweise herrscht im Park des Grand Hotel Villa Cora in Florenz gediegene Ruhe, heute ist diese Ruhe durch einen Riesenauflauf gestört worden: Eine kleine, aber hartnäckige Gruppe von Verehrern und Paparazzi – darunter auch der Autor dieser Zeilen – hat sich hier postiert, um bei der Ankunft der britischen Autorin Elizabeth „Lizzie“ Rust dabei zu sein.

Sollten Sie Lizzie Rust nicht kennen, also die letzten Jahre in irgendeiner Höhle verbracht haben, dann sollten Sie wissen: Rust ist die Schöpferin von Priscilla, Heldin romantischer Abenteuer, die die Herzen von Leserinnen in aller Welt höher schlagen lässt. Von Leserinnen, die derzeit auf Nadeln sitzen, lässt der neue Priscilla-Roman doch mittlerweile zwei Jahre auf sich warten.

Es ist deshalb auch kein Zufall, dass Elizabeth Rust nach ihrer Ankunft in Florenz in einem feurigen Cabrio sofort mit Fragen zum neuen Buch torpediert worden ist. Die Autorin hatte auf alle Fragen nur eine Antwort: ein strahlendes Lächeln. Hinter ihrer Sonnenbrille versteckt, wollte Lizzie heute keine Statements abgeben und ist umgehend im schattigen Innenhof des Palais untergetaucht. Zurück blieb nichts anderes als ein Hauch ihres Parfums.

Chapter 03

Ein Maler

Wie viele von Euch wissen, seit wann der Maler schon in diesem Winkel sitzt? Wohl nur wenige, denn unaufmerksamen Augen entgeht er. Und doch ist er da, über seine Leinwand gebeugt mit Pinseln hantierend in der Via dei Calzaiuoli, genau dort, wo der Vicolo dell’Onestà von der Straße abzweigt. Er ist da und malt, von früh morgens bis in den Abend, jeden Tag, ob es nun regnet oder die Sonne scheint.

Nur den Aufmerksamen entgeht er nicht, jenen, die sich nicht von den Schaufenstern der Geschäfte blenden oder sich vom Gewusel der Straße ablenken lassen. Sie sehen ihn und ihnen ist er auf Anhieb sympathisch.

Angespannt, aufmerksam, konzentriert bringt er seine Kunst auf die Leinwand. Seine Ruhe ist ein Kontrapunkt zur Hektik all jener, die normalerweise auf dieser Straße unterwegs sind. Vielleicht ist es der Geist der großen alten Meister, von dem er besessen ist.

Wunder wäre es keines, denn nicht weit weg, im Abschnitt zwischen dem Vicolo del Giglio und der Kirche Orsanmichele hatten gerade sie ihre Werkstätten. Donatello etwa, oder Michelozzo haben hier in dieser Straße gemalt, Schulter an Schulter mit den Kaufleuten, die diese Stadt groß gemacht und ihre Kunstwerke finanziert haben.

Vielleicht weiß das der Maler, vielleicht hat er sich deshalb diese Straße ausgesucht. Oder vielleicht liebt er es einfach nur, Zuschauer der kleinen menschlichen Komödie zu sein, die sich hier Tag für Tag abspielt. Hier, vor seiner Leinwand.

Chapter 04

Auf der Flucht

Nein, denkt sich Lizzie, ratlos über das Kopfsteinpflaster der Straße hastend, nein, das kann nicht sein. Auch hier, auch heute, schon wieder. Was haben diese Leute nur im Kopf? Warum lassen sie mich nicht in Ruhe? Was wollen sie von mir?

Was sind das für blöde Fragen, die ich mir hier stelle? Ich weiß genau, was sie von mir wollen: Priscilla! Sie wollen einen weiteren, gottverfluchten Priscilla-Roman. Verdammt, stöhnt Lizzie, während ihr der Schweiß über die Schläfen rinnt, die Wangen hinunter.

Was hilft es, reich und berühmt zu sein, wenn man dafür seine Ruhe opfern muss? Die Ruhe, eine neue Stadt zu erkunden, ihre Straßen und Gassen, ihre antiken Schönheiten? Sie hat mir diese Ruhe genommen, die Lust am Alleinsein und an der Entdeckung. Sie! Also zum Teufel mit Priscilla, zum Teufel mit den Büchern, der Schriftstellerei, den Partys, den Reisen und all dem Geld! Zum Teufel!

Ich bin es leid. Ich bin es leid, denselben Alltag immer und immer wieder zu erleben, diesen Alltag, der die Sinne betäubt. Und wenn ich es leid bin, dann ist das ihre Schuld, nur ihre. Ich hasse Dich, Priscilla, für all das, was Du mir genommen hast und jeden Tag nimmst. Ich hasse Dich und werde Dich immer hassen!

Wenn ich doch nur die Gefühle wieder spüren könnte, die einmal da waren: Freude, Sehnsucht, Angst, Zorn, Liebe. Es fehlt mir, sie zu spüren, wie das morgendliche eiskalte Wasser im Gesicht.

Ihren Gedanken nachhängend, ist Lizzie schneller und schneller geworden. Jetzt läuft sie sogar, hat das Gefühl, über das Straßenpflaster zu fliegen, Schreie und Flüche hinter sich lassend.

Sie wollen mich, nein, sie wollen einen Teil von mir! Einen Teil, der nicht einmal wahr ist, sondern nur meiner Phantasie entsprungen.

So schnell sie auch läuft, diesen Gedanken kann sie nicht abschütteln. Und so fliegt Lizzie weiter durch die ihr unbekannten Straßen, steinerne Zeugen der großen Vergangenheit dieser Stadt. Dabei ist Florenz für sie wie jeder andere Ort, den sie in den Monaten besucht hat, seit ihr Leben das ist und nur das: eine unendliche Flucht vor dem Geist, den sie selbst erschaffen hat und der sie nun verfolgt.

Chapter 05

In Sicherheit

Zuerst hört sie der Maler. Eine lärmende Menge kommt auf der Straße auf ihn zu wie eine Woge. Er versucht zunächst, sie auszublenden. Schließlich hat er in all der Zeit gelernt, störenden Lärm zu filtern, ihn nicht an sich heranzulassen, sich nicht zerstreuen zu lassen.

Aber dieser Lärm ist anders. Bei diesem Lärm versagt seine Technik des Ausblendens. Mehr noch: er wird immer stärker, immer störender, sodass er die Augen von der Leinwand reißt und den Kopf hebt. Vielleicht ist es an der Zeit zu verstehen, was dieser Auflauf bedeutet.

In diesem Augenblick sieht er sie zum ersten Mal, wie sie durch die Menge hastet, um ahnungslose Passanten kurvt, eine Meute hinter sich, die Meter um Meter an Masse zunimmt.

Sie ist wunderschön.

Es ist, als ob der Blitz eingeschlagen hätte. Nie zuvor hat er so viel verzweifelte Schönheit gesehen. Er würde erstarren, wäre da nicht der schlecht getarnte Zorn auf dem Gesicht der Fremden, in die er sich soeben verschaut hat. Es braucht nicht viel um zu verstehen, was zu tun ist.

Im Augenblick, in dem sie an ihm vorbeihastet, ergreift er ihren Arm. Ebenso sanft wie entschlossen schiebt er sie in die Gasse, während die verirrte Meute sich vor dem Durchschlupf zerstreut. Im schmalen Durchgang drängt er sie zu laufen, doch das ist nicht nötig. Lizzie rennt bereits und obwohl sie noch nicht weiß, ob sie dem Fremden trauen kann, fühlt sie doch, dass er ihr nichts Böses will. Und falls doch, so ist ein merkwürdiger Fremder doch immer noch besser als eine durchgeknallte Meute.

Als sie das Ende der Gasse erreichen, wartet dort ein abgestellter Motorroller auf sie. Der Mann sattelt auf und bedeutet ihr, es ihm nachzumachen. Auch weil die Stimmen der Meute wieder lauter werden, lässt sich Lizzie nicht zwei Mal bitten. Sie steigt hinter ihm auf den Roller und Augenblicke später sind sie schon weg.

Chapter 06

Die Idylle

Die Lambretta röhrt, als sie die baumbestandenen Kurven hinauf zum Piazzale Michelangelo unter die Räder nehmen. Über Florenz geht die Sonne unter, der Lärm der Stimmen, der noch Stunden zuvor für ihr Zusammentreffen gesorgt hatte, ist hier weit weg.

Der Maler hält den Roller an, Lizzie schwingt sich vom Sattel und noch bevor er sein Gefährt aufbocken kann, ist sie schon unterwegs zur Balustrade. Als der Maler an ihre Seite tritt, sitzt sie bereits auf dem Geländer, die Beine in der Luft, unter ihr die Stadt. Über sie schweift nun der Blick des Malers, dem auch jener von Lizzie folgt.

Bis jetzt haben sie noch nicht viel miteinander gesprochen. Es war genug, in ihren Augen zu lesen.

Aber mit dem Untergehen der Sonne legt sich auch ein Schatten auf die Stimmung der letzten Stunden. Lizzie nimmt die Hand des Malers, er zuckt zusammen. Sie schaut ihm in die Augen und flüstert in sein Ohr: „Morgen muss ich weg.“

Chapter 07

Der Abschied

Das Halbdunkel seines Ateliers wird nur durch die vielen Kerzen erhellt, deren Licht der Maler so liebt: weich ist es und es sorgt für tanzende Schatten. Eingehüllt in dieses weiche Licht steht Lizzie, etwas unsicher noch, für ihn Modell.

Der Pinsel des Malers fliegt über die Leinwand. Er weiß, dass er sich ein Zögern, ein Zaudern nicht leisten kann. Ihre Stunden sind gezählt. Zugleich weiß er, dass er dieses Gefühl einfangen will, das sie beide durchströmt. Er kann nicht zulassen, dass es verloren geht.

Erst im Morgengrauen beendet der Maler sein Werk, erst dann gönnt er sich ein wenig Schlaf. Nur wenige Stunden später erwacht er wieder. Der Kopf ist schwer, die Glieder bleiern. Von der Frau findet er nur eine Spur: einen Kussmund, den sie mit Lippenstift auf ein Blatt Papier gedrückt hat. Es hängt an seiner Staffelei.

Zu dieser Zeit ist Lizzie schon wieder zurück in ihrem Hotel. Schon bald wird auch Florenz nur eine allzu flüchtige Erinnerung sein. Beim Kofferpacken spürt sie allerdings: etwas in ihr hat sich verändert. Sie weiß nicht was, sie spürt nur, dass die Mauer, mit der sie ihre Seele umgeben hat, bröckelt. Was sie weiß, ist, dass es nicht Gewalt war, die die Mauern zum Bröckeln gebracht hat, sondern eine Süße, die sie schon allzu lang nicht mehr gespürt hatte.

Sie steigt die Stiegen hinab in den Innenhof des Palais und von dort beobachtet sie auch heute den Sonnenuntergang über Florenz. Fragen, Wünsche, Forderungen: all das, was sich noch vor wenigen Stunden wie Blei auf ihre Schultern, auf ihre Arme und Beine gelegt hatte, prallen heute von ihr ab.

Sie schließt die Autotür hinter sich und seufzt. Und während der Motor startet, hört sie es noch einmal. Sie erkennt es sofort. Das Röhren dieser Lambretta würde sie unter tausenden anderen erkennen. Sie bittet den Fahrer, langsamer zu fahren. Und da sieht sie ihn: den Maler, der im Sattel seines treuen Rosses aus einer der Gassen schießt, die nur er zu kennen scheint. Er fährt nun neben dem Auto her und legt einen Umschlag auf Lizzies Beinen ab. Dann zwinkert er ihr zu, beschleunigt und verschwindet.

Chapter 08

Ein neuer Anfang

Die Reise war lang, anstrengend. Und trotzdem fühlt sich Lizzie nicht müde. Vor dem Hotelfenster streichelt eine Frühlingsbrise die ville lumière. Etwas Undefinierbares sorgt für eine Gänsehaut, doch es ist nicht Kälte, die sie spürt, sondern vielmehr eine Energie, die sie lang verschollen geglaubt hatte. Heute Abend ist sie plötzlich wieder da.

Lizzie weiß, was zu tun ist, sie hat gelernt, diesem Impuls zu folgen. Sie holt die Schreibmaschine aus ihrer Hülle hervor – immer mit denselben Handgriffen, als wäre es ein Ritual – spannt eine neue Farbrolle ein, kramt einen Stapel Papier hervor und nimmt sich mit größter Aufmerksamkeit des ersten Blattes an. Sie wiegt es in ihrer Hand, als würde es sich in irgendeiner Art von den anderen unterscheiden. Und vielleicht tut es das ja wirklich, denn sie spannt es in die Schreibmaschine, dreht solange am Kolben, bis es in der richtigen Position ist, und lässt den Haltebügel einrasten. Jetzt ist sie bereit.

Sie drückt das Kreuz durch, lockert die Finger und atmet tief aus. Während all die Luft aus ihren Lungen entweicht, zögert sie kurz. Sie dreht den Kopf, um ihn noch einmal zu sehen. Dort, zwischen den Laken des Bettes liegt der Umschlag mit ihrem Bild, Zeuge einer Liebe, die war, die sein hätte können, die immer noch ist.

Während eine Träne sich einen Weg über ihre Wange sucht, fliegen ihre Finger bereits über die Tasten der Schreibmaschine, auf dem Blatt folgt Satz auf Satz: „Eine lärmende Menge kommt auf der Straße auf ihn zu wie eine Woge. In diesem Augenblick sieht er sie zum ersten Mal, Priscilla, wie sie durch die Menge hastet, um ahnungslose Passanten kurvt.“

 

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